Altes und Neues Testament bei Gerhard von Rad

Theologie des Alten Testaments Bd. II, 91987, Dritter Hauptteil, S. 339-447

A. Die Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen

ÜG = Überlieferungsgeschichte

  1. Konzentration einzig auf den ÜG-Aspekt (II,342), Weg vom AT zum NT statt umgekehrt (das Recht dieses Weges wird zugestanden, aber ohne Begründung).
  2. Inneratl.: In ÜG gewisser Ausleseprozeß (II,343), bes. bei den Propheten (II,343ff.): "charismatisch-eklektischer Vorgang" (II,345), das Alte als typisch f.d. Neue darzustellen, ohne regelrechte Methode (II,345); so ist das Ineinander von Alt und Neu unauflöslich (II,345f.). Beispiel: Gen 32,23ff. und seine Interpretation (Hos 12,4f.). "Das Neue bedient sich der überlieferten Gestalt und vermag sich doch in ihr … erstaunlich frei bewegen." (II,347) Im Verhältnis von Altem und Neuem Testament arbeiten wir heute evtl. mit viel zu starren Größen. Apostel und Evangelisten waren in noch höherem Maße frei, in dem sie in ihrem Einbeziehen, Umprägen oder Abstoßen einen ganz ähnlichen Umbruch vollziehen, den wir schon inneratl. festgestellt haben (II,347f.).
    Der Prozeß der "Adaption" ist angesichts dessen, daß das AT kein einheitliches Gottesbild hat, der legitimste Weg, auf dem Israel die Kontinuität seiner Geschichte mit Gott wahren konnte und es vermied, daß diese Geschichte in eine Reihe beziehungsloser Akte zerfiel (II,348).
  3. Das NT ist erfüllt vom neuen Handeln Gottes, so daß das AT nicht mehr nur unter dem Aspekt des Gesetzes (rabb. Auslegung), sondern auch unter dem Heilsgeschichte gelesen wurde (II,349f.). Vieles von der neutestamentlichen Schriftdeutung ist zeitbedingt und kann von uns nicht mehr nachvollzogen werden (II,351); die Zeugen des Neuen Testaments praktizieren in der Heranziehung des Alten eine äußerste (II,350), charismatische Freiheit (II,351, daher im NT kaum reflektierte Hermeneutik). Der ad-hoc-Aktualisierung muß aber eine Grundauffassung vom Verhältnis der Testamente vorangegangen sein… Wegweisend bleibt, daß nur das auf Christus bezogene AT für den Christusgläubigen Bedeutung hat (II,353). Die Legitimität dieser Umdeutung läßt sich neutral nicht erweisen (II,354f.). Es wäre nicht möglich gewesen, das AT in Beschlag zu nehmen, wenn es nicht von sich aus dafür offenstand (Beispiele: Magnificat, Benedictus, Heilandsruf; II,354f.). Die Beispiele zeigen die Auffassung eines Bewußtseins von Kontinuität und zugleich gewissem, mindestens zeitlichem Abstand. Dieser Abstand ist in Mt 11 durch die Identifikation aufgehoben (II,355f.).
    Der Christusglaube bedurfte schlechterdings des AT, um sich auszusprechen. War diese Hilfestellung eine zeitbedingte, kann sie wieder entfallen? Dies ist Sache der neutestamentlichen Theologie. "Die Antwort kann und muß aber auch aus dem Alten Testament selbst gegeben werden; denn auch von ihm aus muß es sich zeigen, daß es neben dem Neuen als das Fundament des Christusglaubens anzusehen ist." Dies in den folgenden Abschnitten (II,356).

B. Das alttestamentliche Verständnis
von der Welt und vom Menschen und der Christusglaube

Religion von AT und NT kann nicht je für sich genommen und verglichen werden (II,357)…

Eine begriffliche Klärung des Verhältnis der Testamente scheint nie ereicht worden zu sein. Sicher stand das AT wohl nie mehr so offen wie z.Zt. des Neuen Testaments. Das aus dem AT ergehende Wort Gottes an die Christusgemeinde ist im NT gar nicht umfassend beschrieben, eher okkasionell (II,358).

Bes. Kluft der heutigen alttestamentlichen Wissenschaft von den älteren theologischen Auffassungen vom AT; die Fülle der geschichtlichen Kenntnisse seit ca. Mitte des 19.Jhs. haben fast zu einem Abbruch des eigentlichen theologischen Gespräch mit dem NT geführt. Aber seit ca. 2.Viertel des 20.Jhs. evtl. verheißungsvoller Neuansatz.

Die Bedeutung des Alten Testaments f.d. Christen zu bestimmen, gehen wir aus von folg. Satz von Zimmerli: "Der Ort, an dem Gott sein Persongeheimnis offenbart, ist die Geschichte." Dies gilt für AT und NT (II,359).

  1. Besonderheiten des alttestamentlichen Weltverständnisses
    Einheit der Welt nicht in sich, sondern nur in ihrem Bezug auf Gott. Schöpfungsaussagen scheinen etwas abseits zu stehen, aber doch enger Zusammenhang mit dem eigentümlichen Weltverständnis Israels in proph. und geschichtlichen Büchern (II,360): Kap. von Jahwe als Schöpfer sprechen keine andere Vorstellung von der Welt aus, als die Götzenpolemik der Propheten oder die alttestamentliche Geschichtsschreibung. Schöpfungsglaube war keine philosophische Erkenntnis, sondern Aussage eines Glaubens, der sich in immer neuen Versuchungen bewähren mußte. Das 1.und.2. Gebot sind auch der Schlüssel zu dem Weltverständnis Israels. Den mythischen Verbildlichungen hat Israel das Entscheidende, ihre Offenbarungsmächtigkeit, bestritten (II,361).– Große Schwierigkeit für uns, Israels Weltverständnis nachzuvollziehen: "Natur" und "Geschichte" sind verstellende Begriffe. Die Breite von Israels Bevölkerung war sich der ganzen Welthaftigkeit der Schöpfung bewußt. Auch die Propheten und Geschichtsschreiber legen je nur einen Teil der Welt frei.
    P/Urgeschichte: Israel auf einer Stufe mit den Völkern, so gegen jeden mythologisch-urgeschtl. Primat Israels. Stürmischer Vorstoß ins Weltliche auch schon in den Werken des salomonischen Humanismus (II,363).
    Erfahrungsweisheit: Die Welt als welthaft, ganz unmythisch, Versuch, ihrer Geheimnisse rational habhaft zu werden. Doch der rationele Weltaspekt wurde in Israel nie verabsolutiert, sondern vom Glauben umklammert. Am Ende die Resignation von Hiob 28: alle Weltbeherrschung hat den Menschen dem göttlichen Weltgeheimnis nicht näher geführt.
    Propheten: Horizont der Weltgeschichte aufgerissen, dabei nicht aus dem Hoheitsbereich Gottes entlassen. In dem Maß, in dem sie die Völker Gott unterstellten, wurde deren Welt ihnen zur Welt; die Völkerwelt gehörte nicht mehr den Göttern an (II,364; so noch 1Sa 26,19; 2Kö 3,27; II,365). 
    Dtn: Würgte viel kultisches Brauchtum ab, ländliche Gebiete wurden verweltlicht. Jedoch zu allen Zeiten hatte Jahwe einen Ort ausgegrenzt, an dem Heiliges geschah – Israels Lebensraum wurde nie restlos Welt (II,366). Seine heiligen Orte verstand Israel nicht als Omphalos der Welt (vgl. Hes 5,5); sie waren nicht an sich hl.; dies hing ab von der Gegenwart des Göttlichen (II,367), wo Jahwe seinen Namen hinlegt. Wenn Israel den Kultort mißbrauchte, liquidierte Jahwe selbst diesen Ort (Jer 7,12; Mi 3,11f.).
    In späterer Prophetie eine vor Jahwe vergehende Welt; vgl. P: Welt durch Notordnung des Noahbundes gehalten; Num 14,21: ganze Erde wird einmal der Herrlichkeit Jahwes voll werden. … Scheidung von geschichtlicher und natürlicher Welt ist nicht alttestamentlich. Prophetie sprach von einem Weltende (II,369).
  2. Das Bild vom Menschen
    Von "dem" Menschen selten, sondern im Gegenüber (Zu- oder Abkehr, immer eine Geschichte!) zu Gott geredet (II,369). Eher von Israel als vom Menschen an sich gehandelt, aber in Gen 1ff. Fülle von Anthropologie: Das Bild vom Mensch "im Widerspruch". Wo Verhältnis zu Gott geschildert, sind die Farben relativ einheitlich. Aber wo Verhältnis zum Menschen geschildert, da schillert das Menschenbild (II,370). In Israel eine einzigartige Entmythologisierung des Menschen: Keine mythische Spähre mehr (Geschlechtlichkeit, Königtum), die der Kritik entzogen wäre.
  3. Der Tod
    Das Sterben ging von Jahwe selbst aus; der Tote war aus der Lebensgemeinschaft mit Gott geschieden und repräsentierte einen äußersten Grad von Unreinheit (Ps 88; II,371f.). Erstaunlich, wie der geheimnisvolle Bereich jedes sakralen Charakters entkleidet wurde: Das Totenreich blieb ein Undefinierbares Drittes zwischen Jahwe und seiner Schöpfung, für den Glauben ohne wirkliches Interesse. Erst am äußersten Rand des AT: Weissagungen, daß Gott den Seinen eine Auferstehung bereite.
  4. Wie verhalten sich Nr. 1-3 zur neutestamentlichen Botschaft von Jesus Christus?
    Das AT hat eine vorbereitende Bedeutung (II,373). Doch ist das neutestamentliche Heilsgeschehen das schlechterdings Analogielose, was heißt dann Anknüpfung? Vorbereitung ist mehr als Anknüpfung: Das AT stellt dem NT nicht nur einzelne Begriffe, sondern ganze Aussageketten zur Verfügung. Die okkasionellen Bezugnahmen des NT aufs AT geben keine ausreichende Basis für die Bestimmung des Verhältnisses der Testamente her (II,374f.). Vielmehr ist unter dem Gesichtspunkt der Sprache (menschliches Vermögen, die Wirklichkeit des Lebens zu bezeichnen/benennen) das Verbindende zu suchen. Im (verschiedenen) Benennen und Bezeichnen geschieht schon ein urtümliches (verschiedenes) Erkennen, ja ein Nachschaffen. Die religiöse Sprache Israels entspricht einer Wirklichkeit, die nach allen Seiten hin offen war für Gott und so mit der Wirklichkeit, die sich Gott durch seine geschichtliche Selbstoffenbarung geöffnet hat (II,375). Im Gespräch mit Gott entstand in Israel jenes spezifische sprachlich-begriffliche Werkzeug, die der Besonderheit der Begegnung Israels mit seinem Gott entsprach. Der Leser ist über die Bruchlosigkeit des Übergangs überrascht: Das Neue wird in der Sprache des Alten ausgesagt. Trotz, ja gerade wg. der Verschiedenheit der griech. und hebr. Sprache drängt sich auf: Die Sprache von AT und NT ist doch eine einheitliche (II,376). Damit ist viel gesagt: Dem Wort eignet eine eminente hermeneutische Funktion, indem es der Sache zugleich ihren weltanschaulichen Ort zuweist. So jedenfalls in der antiken Sprache, wo das Wort Teil eines lebendigen Organismus ist. Wo im NT von "Erwählung", "Erfüllung" etc., da wird an alttestamentliche unmythologische Begrifflichkeit angeknüpft und damit an die Selbstoffenbarung des Gottes Israels. In dieser Offenbarung scheint der eigentliche Anknüpfungspunkt des NT an das AT zu liegen, in ihr hat sich die "Vorbereitung" auf Jesus Christus ereignet (II,377f.). Alle Bemühung um das Verhältnis der Testamente läuft zurück auf die Frage nach der Gottesoffenbarung. Und hier "konnte Jesus seine Hörer ohne bes. Vorbereitung auf Gott, auf ihren Gott hin ansprechen. Nur vor diesem Gott war der Mensch Mensch und die Welt Welt. Würde das aber nicht bedeuten, daß alle die Zeugnisse, von denen wir oben sprachen, die die Welt und den Menschen unmythisch als Schöpfung vor Gott verstehen lehren, letztlich auf das Kommen Jesu Christi hin zu lesen und … zu verstehen sind?" "Sein Eigentum" (Joh 1,11) kündigt sich im AT deutlich erkennbar an.
    Für diese vorbereitende Funktion der alttestamentlichen Heilsgeschichte fehlt zwar noch eine saubere und akzeptierte Begrifflichkeit, aber die Sache selbst ist wahrzunehmen. Unsere Aufgabe: die noëtisch-heuristische Bedeutung, die das AT f.d. Verständnis des neutestamentlichen Heilsgeschehens hat, neu bestimmen (z.B. Inkarnationsverständnis; II,378f.).

 

C. Das alttestamentliche Heilsgeschehen im Lichte der neutestamentlichen Erfüllung

  1. Das AT ist ein Geschichtsbuch (II,380); eine Heilsgeschichte deshalb, weil in ihrer Darstellung schon die Schöpfung als göttliches Heilswerk verstanden wird und der Heilswille Gottes über viele Gerichte Gottes zu seinem Ziel kommen wird. Wie hat sich Gott offenbart: durch Worte und durch Taten. Wie in den Taten? Punktuell hat sich Jahwe verherrlicht und ein Geschehen zur unmittelbaren Anrede an Israel gemacht. Die Geschichte wird zum Wort (eher ältere Texte) und das Wort wird zur Geschichte (eher in jüngeren Texten). Dieses Spannungsverhältnis ist nicht vorzeitig aufzulösen (II,381f.).
    Das Verhältnis Israels zu Jahwe steht und fällt mit dem Reden Jahwes. …Zu achten ist auf die bes. Überlieferung, die den Ereignissen so nahe steht, oder die sonstwie eine so ursprüngliche erzählerische Art hat, daß sie vollauf damit beschäftigt ist, sich dem Ereignis selbst in seiner ganzen Kontingenz offen zu halten, ohne zu deuten (II,382). Unterschied, ob der Erzähler ausgefüllt ist von einem fast "beschwerlichen Schreiten durch den Vorgang" (Buber) oder ob er uns anleitet, anhand allgemeiner theologischer Zusammenhänge das Ereignis zu begreifen. Diese Darstellungen sind es, die v.a. dem AT im Ganzen seine große geschichtliche Schwere geben; denn aus ihnen tritt uns das Gegenüber echter, rätselvoller Geschichte, die gedanklich noch gar nicht bewältigt ist, am unmittelbarsten entgegen. Die geschichtlichen Stoffe des AT gehen von Hand zu Hand. Sicher sind in späterer Zeit die größeren Zusammenhänge, Grundsätzlicheres über den Weg Gottes mit Israel erkennbar, aber auch Verkümmerung möglich (II,383f.). Doch waren die Deutungen der Redaktoren endgültig? Im NT wird die Frage nach dem Sinn des Geschichtsverlaufs noch einmal aufgerollt unter der Voraussetzung, daß er noch gar nicht eigentlich verstanden sei (Röm 15,4).
    Nicht jede Geschichtsdarstellung würde eine solche wiederholte Interpretation ohne Schaden ertragen. Aber die alttestamentliche Geschichtsdarstellung ist von sich aus nach Zukunft hin offen (charakteristisch für das Existenzverständnisse beider Testamente, mit Bultmann; II,384), mit der neuen Deutung geschah den alten Jahwegeschichten nichts Fremdes, sie waren von vorneherein darauf angelegt. Für die Späteren war das Deuten und Ergreifen des Überkommen eine Lebensnotwendigkeit [v.Rad über unsere Gegenwart?]: So konnten sie in diesselbe Gottesgeschichte eintreten. Das "für uns geschrieben" galt auch schon für die vorchrl. Stadien der Interpretation und Aneignung des Alten.
  2. Die heilsgeschichtliche evangelische Theologie (Erlanger) benutzte viele Philosopheme; heutige biblische Theologie steht unter dem gegenteiligen Eindruck stärkster Diskontinuität der Israel widerfahrenen Gotteserfahrungen (II,385); es war diesem Volk nicht bestimmt, in einer Offenbarung seines Gottes zur Ruhe zu kommen. "Damit hängt es zusammen, daß die Frage nach einer inneren Einheit des Alten Testaments von ihm selbst aus schwer zu beantworten ist; denn das Alte Testament hat keine Mitte wie das Neue Testament." (II,386) Jahwe als Mitte? Nicht ausreichend: Israel ruhte ja kaum in seinem Gott. Gefahr beim Vergleich der konstituierenden Grundbegriffe: Abstraktion von den Geschehnissen, in denen sie verankert sind. Wir beginnen deshalb mit der Frage nach einer "Strukturanalogie", die zwischen dem Heilsgeschehen hier und dort sichtbar wird (Anm.: Ratschow): Ineinander von Wort- und Ereignisoffenbarung, immer härtere Konfrontation zwischen Mensch und einem sich immer tiefer verbergenden Gott, Verheißungen, Berufungen, Verwerfungen, Gerichte und Führungen, Tröstungen und Anfechtungen – in der religiös-kultischen Umwelt analogielos, aber im NT mit Entsprechung. Das NT zieht das AT dazu frei heran, obwohl es die Einzigartigkeit Jesu Christi betont. Dies ist möglich wg. der Selbigkeit Gottes (Gal 4,4; II,387f.). Ein wichtiges Mittel dazu war das typologische Verständnis des Alten Testaments im Neuen (innerhalb des Alten: geschichtlich-eschatologische Typologie; II,388; Beispiele im NT: Anm. 9 S. 389). Die typologische Auslegung läßt sich nicht mehr erneuern. Dennoch ist die Forschung neu auf das typolog. Denken in der Bibel aufmerksam geworden, denn es hat sich als eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Entstehung der prophet. Weissaggung neu zur Diskussion gestellt (II,390). In unserem AT-Verständnis wichtige Änderung: Fast die ganze Literatur (kleinere oder größere Ballungen) des AT hat sich an wenige göttliche Heilssetzungen geheftet, Israel hat also unablässig an der Vergegenwärtigung der Heilstaten seines Gottes gearbeitet. Eine geschlossene "Religion Israels" gab es nie, das AT selbst entzieht so einer Betrachtungsweise den Boden, die nach Frömmigkeitstypen und übergeschichtlichem Wahrheitsgehalt einer Religion fragte. Es stellt uns vor ein gottgewirktes Geschehen. Damit Neubestimmung des Verhältnisses der Testamente: Die nun relevante Frage: Wie hat ein AT, das von göttlichen Geschichtsereignissen redet, mit der Erscheinung Jesu Christi zu tun und wie ist das theologisch zu bestimmen? (II,391) Auf welcher Ebene sind AT und NT komparabel, gibt es verbindendes Typisches?
    Das AT haben wir nicht auf ein System allgemeiner religiöser Werte zu beziehen, sondern uns an den Raum seiner gottbewegten Geschichte zu halten, die NT-gemäß in Jesus Christus ihr Ziel findet. Nur in ihr ist es sinnvoll, nach Analogem und Vergleichbarem zu suchen. Zu fragen ist nicht nach der Analogie der Abläufe, sondern der Credenda, die auch bei völliger Unvergleichbarkeit der äußeren Ereignisse vorhanden sein kann (II,392). Gen 50,20 z.B. will keine allgemeine religiöse Wahrheit sein, nach der Gott Böses in Gutes wandelt, kann aber ein Schlüsselwort auch für das neutestamentliche Heilsgeschehen sein. Andere Beispiele: Jes 8,16-18; Moses Amt (II,393). Die Josephsgeschichte bleibt (ebenfalls), was sie nach den Erkenntnissen der neueren kritischen Forschung ist; der inneratl. Verstand ist deutlich herauszuarbeiten. "Die Frage nach dem Typischen will nur zu einem sachgemäßeren Verstehen führen. Von den Analogien her lehrt sie das Spezifische der Credenda in ihrem und ihrer Tragweite besser verstehen." (II,394) Genauere Kenntnis der Einzelzeugnisse ist wichtiger denn je. Hier und nicht in einer höheren Ebene muß sich die behauptete Zusammengehörigkeit der Testamente bestätigen. Dann dürfte der Begriff "Typologie" wieder verschwinden, aber nicht vorher. Unterschied zur Typologie des 17.Jhs.: Die Realien eines heilsgeschichtlichen Ablaufs werden nicht mehr naiv verobjektiviert. Alles kommt nicht auf Personen oder Gegenstände als Typen an; vielmehr auf das Geschehen zwischen Israel und seinem Gott, auf das Gefälle bei allem, auf ihren Ort im großen Spannungsfeld ("Abläufe") von Verheißung und Erfüllung. Der wahre Sinn und die letzte theologische Reichweite von Gen 50,20 wird uns also erst vom NT aus deutlich. Aber die Frage nach dem Typischen kann ja nicht bei der Feststellung von Analogien in beiden Testamenten stehen bleiben. In Israel hatte das festgestellte Typische nicht statische Bedeutung, es erscheint in rätselhafter geschichtlicher Vorwärtsbewegung (vgl. Berufung und Scheitern der Charismatiker, deren Auftrag offen bleibt, vgl. Jes 22,15-25; II,396). Das Amt der "Schlüssel Davids" blieb unversehen, bis es endlich zu den Füßen Christi niedergelegt werden konnte (Offb 3,7). Im Sinne der ruhelosen Bewegung auf eine zunächst ausbleibende Erfüllung hin wird man von einer weissagenden Kraft der alttestamentlichen Vorbilder sprechen können (vgl. Landverheißung/Ruhe; II,397f.).
  3. Die Verborgenheit Gottes
    Gott entäußerte sich in Christus; ganze Bundesgeschichte ist fortgesetzte göttliche Selbstbeschränkung (II,398). Das Rätsel dieses göttlichen Geschichtsplanes tritt auch in den maßlosen messianischen Prädikationen auf, die in den kleinen Königen Judas gar nicht zum Ziel kommen. Abrahamgeschichte (JE) steht gerade unter dem Thema des Verzugs der Erfüllung; Gott selber kann der Feind der Erfüllung werden (Gen 22). Noch rätselhaftere Verborgenheit Gottes in den Jahwegleichnisse der Propheten (II,399), das "fremde Werk" (Jes 28,21); Jeremias Krise, Bresche bei Hos; Jes 53 – Linien einer neutestamentlichen theologia crucis vorgezeichnet. Es sind christologische Probleme, die sich in den Konflikten dieser Männer abzeichnen. Hier wurde der Grund gelegt zu der Erkenntnis von dem deÎi, das im NT anklingt, von dem Leidenmüssen, dem sich Jesus unterstellt (II,401). Weitere Beispiele: Klagepsalmen. "Alle echte Gotteserkenntnis beginnt mit der Erkenntnis der Verborgenheit Gottes" – das klarste Wort des AT [!!] ist Jes 45,15; ähnlich 28,21.
    b) Glaube (II,402)
    Zu verschiedenen Zeiten etwas völlig anderes (vgl. Jes mit Jer; II,403). Alttestamentliche Kriegsgeschichten: Glaube als Gehorsamsakt, den Israel angesichts der verbürgenden Zusage Jahwes seinem Gott schuldet. Grundsätzlich blickt dieser Glaube nach rückwärts und vorwärts (II,404). Bei Jes heißt Glauben: Auf Jahwe hinschauen, sich nicht auf die gegenwärtigen Machtverhältnisse stützen. Rettung nur für den, der der Gegenwart vorauslaufend sich in dem kommenden Heilsgeschehen, das Jahwe auf dem Zion zum Abschluß bringen wird, zu bergen weiß (Jes 10,12). Bei Jer tritt die Glaubensforderung zurück, sie ist hier nach innen gewandt und in den Konfessionen zur Existenzfrage des Propheten geworden. Problem: Der Glaube vermag mit dem sich immer tiefer verbergenden Gott nicht Schritt zu halten. (DtrG…)
    Glaube ist immer auf eine Person gerichtet, auf Jahwe und nicht auf Sachverhalte: "Sich-Verlassen"; so auch im NT (II,405). Voraus geht eine Tat Gottes (Erscheinung Christi im Fleisch). Im NT so neues Gegenüber und neue eschatologische Perspektive. Hierin sind AT und NT geschieden: Alttestamentlicher Glaube ist auch in seiner eschatologischen Ausrichtung Glauben an Jahwe geblieben; er wurde z.B. in der messianischen Weissagung nicht zum Glauben an den Messias.
    Wer war denn dieser Jahwe? Ein Gott, der sein Volk aus seinem religiösen Besitz vertreibt (Jes 43,18)! Israel sollte sich auf keine mythische Ordnung von uraltem Ansehen gründen, und sein Verkehr mit Gott durfte nicht auf einer in langer Übung bewährten Technik der Gottesbefragung stehen (KD I/2,360: "Kampf der Offenbarung gegen die Offenbarungsreligion") (II,406f.)
  4. Das christliche Verständnis des Alten Testaments
    Das Wesentliche im Entsprechungsverhältnis beider Testamente liegt nicht im religiös-Begrifflichen (sic), sondern im Heilsgeschichtlichen, denn in Jesus Christus stoßen wir wieder – und in gesteigerter Form! – auf das aus dem AT so gut bekannte Ineinander von göttlichem Wort und geschichtlichen Fakten (s.o.S. II,381ff.). "Die die jeweiligen inneratl. Geschehnisse deutenden Zeugnisse bewegen sich ihrerseits von Mal zu Mal von ihrem geschichtlichen Ort weg, auf Jesus Christus hin, um sich in ihm als ihrem endgültigem Erfüller zu sammeln." (II,407) Was Israel erfahren hatte (Königtum, Landverheißung), vollendet sich in dem Verhältnis des neutestamentlichen Heilsgeschehens zum alttestamentlichen. "Christus ist Erfüller und wird für die Seinen zugleich zur neuen Verheißung." (II,408)
    "Daß sich auf dem Weg Israels immer wieder ‘Typisches’ ereignet hat, daß dieses alttestamentliche Heilsgeschehen voller Hinweise ist auf das neutestamentliche, das ist freilich erst durch die Erscheinung Jesu Christi offenbar geworden" (II,408f.). Auch wo das AT zu gewaltigen Vorausdarstellungen des Christusgeschehens einlädt (Jer!), können wir nicht mehr als von Schatten des Eigentlichen sprechen. Darum kann man auch die eigentlich prophetische Weissagung nicht als Weissagung in einem direkten Sinne, sondern nur als die "Weissagung" von Vorbildlichem bezeichnen, insofern doch auch die proph. Rede von der Zukunft des Gottesvolkes den Vorstellungskreis von den spezifisch alttestamentlichen Heilsgütern nicht grundsätzlich verläßt. Von der vorchrl. ÜB aus gesehen ist die aktualisierende Neuinterpretation ein ganz legitimer Vorgang; das Judentum rang auch um seine Aneignung (Qumran). …
    Umgang der jungen Christenheit mit dem AT doppelgesichtig: a) AT als vorläufig; Betonung der Unterschiede; b) AT mit Ungestüm ans Licht Christi gerissen. So bis heute in der Liturgie, was man nicht als hermeneutische Falschmünzerei verklagen darf; es ist ein konsequenter Prozeß. Geschichten der Gen, Wüstenwanderung, Könige, Gebete und Weissagungen haben doch alle eine auf Christus unmittelbar ansprechbare Seite. Sie dort zu ergreifen und der christlichen Gemeinde in ihrer ganzen Aktualität vor Augen zu stellen, wird sich kein Prediger verdächtigen lassen [Bruch!!] (II,410). Solche Interpretation kann nur eine charismatische sein.
    Beide Testamente legitimieren einander. Daß das AT von Christus her zu deuten ist, scheint heute weniger bestritten als das Umgekehrte. Die Frage der Beibehaltung des AT wäre beantwortet. Einen Christusglauben ohne AT kennen wir noch nicht; das alttestamentliche Erbe ist wohl stärker, als man sich in der Theologie heute bewußt ist (II,411f.). Evtl. positive Wirkung: Neukonzipierung der christlichen Kategorie der Geschichte. Stärkster Widerstand gegen Preisgabe des AT: im NT (II,412).

 

D. Das Gesetz (II,413-436)

Unbefriedigender Zustand: zwei voneinander unabhängige Theologien der Testamente; der Fragenkreis des Verhältnisses der Testamente liegt wie ein blinder Fleck dazwischen, in die Praktische Theologie abgedrängt. Die biblische Wissenschaft muß sich dem Problem stellen, weil a) das AT von selbst über sich hinausweist, b) das NT sich vielfach zurückbezieht. "Hier stehen wir nach dem Einbruch der historisch-kritischen Wissenschaft noch ganz in den Anfängen." (414f.) Immerhin wird deutlich, daß es eine "auf sich beschränkte Theologie des Alten Testaments nicht geben kann, es sei denn, sie sieht von der allerwesentlichsten Eigenschaft des Alten Testaments ab, nämlich von seinem Hinweischarakter auf das neutestamentliche Christusgeschehen."

Fragen wir nun nach dem Gesetz, so durchbrechen wir die spezif. atl. Problemkreise. "Gesetz" und "Evangelium" sind jedoch dem AT nicht fremd; es kennt Gottes Offenbarung als Gnade und Forderung. Vom AT her müßten wir es uns neu sagen lassen, was "Gesetz" ist (frühere Vergröberung Luthers: AT=Gesetz; ¬ 414) und in welchem Verhältnis Gnade und Forderung/Anklage in Gottes Offenbarung steht. Diese Frage ist in den zusammenfassenden Werken seit dem 19.Jh. kaum mehr aufgeworfen worden; die Forschung war vielmehr von Spezialproblemem gefesselt (Bsp.: These Wellhausens, Gesetz sei nachprophetisch, erst in vielen Untersuchungen auf den Vorgang der literarischen Sammlung der an sich viel älteren Überlieferungen in großen theologischen Werken [Dtn, P] eingeschränkt). Frage, wie Gottes an Israel ergangener Rechtswille zu verstehen ist, ist von großer (christlicher) Bedeutung. Mit summarischen Unterscheidungen wie Zeremonial-, Judizial- und Moralgesetz ist nicht mehr auszukommen.

  1. Was erfuhr Israel in seinen Gottesdiensten?
    Im Kultus das Wesentliche im Verhältnis Jahwes zu Israel zu finden. Die Gesetze im AT haben die sakrale Ordnung zur Voraussetzung, "es gibt kein Gesetz, das seinerseits diese Ordnung konstituiert." (¬ 415) Die Einzelgesetze sollen diese Ordnung nur schützen. Bezeichnend: Diese Gesetze sind nicht auf einen Nenner zu bringen: kein umfassendes Unternehmen, das Gottesvolk zu schaffen; meist negativ; berühren die Grundordnung nicht mehr. Immerhin sehr alte, gleich stilisierte Gebotsreihen (Liste; ¬ 416). Der Dekalog etwa ist wohl regelmäßig bei einer Bundeserneuerungsfeier rezitiert worden. In "gesetzlicher" Situation stand Israel durch diese Gebote nicht: die Erwählung ging voraus. Die Gebote umreißen kein Ethos, sondern bezeichnen nur Praktiken, die Jahwe mißfallen. Jedoch gibt es Heilsaneignung nicht ohne Bindung an gewisse Normen – wie in der jungen Christusgemeinde (1Ko 5,5; 16,22; Apg 8,20; ¬ 417): Durch ihr Dasein gab es ein Drinnen und Draußen (2Ti 2,19). Das Fluchzeremoniell von Dtn 27 ist wohl nicht anders zu beurteilen als das Anathema. Zum Zeremonialgesetz (Feste, Beschneidung, Opfer): über deren theol. Bedeutung steht im AT wenig, was darauf schließen läßt, daß all die Zeremonien und Opfer nicht als Begründung eines Anspruches an Jahwe verstanden wurden. So v.a. das Dtn: verkündigt Gesetz, aber gibt nicht Anlaß (¬ 418), an der vorlaufenden Heilszusage zu zweifeln. Die theologische Basis ist hier die Paraklese (oder Paränese; neben Gesetz und Evangelium). Nicht reflektiert wird die Frage, ob Israel die Gebote auch erfüllen könne. Sie erscheinen sogar als leicht erfüllbar. "Nicht das ist die Sorge dieser Paränese, daß Israel möglicherweise vom Gesetz überfordert, also daß es nicht können wird, sondern vielmehr, ob es überhaupt wollen kann." [vgl. Jos 24,19]
    Bis zum Dtn hat es eine festumrissene Größe "Gesetz" nicht gegeben, wenn auch zahlreiche Forderungen Jahwes. In vielen Gefahren war Israel immer wieder (¬ 419) genötigt, das 1. und 2. Gebot charismatisch zu interpretieren: Für die vielen zu fällenden Einzelentscheidungen gaben die Sätze alten apodiktischen sakralen Rechts nicht mehr als allgemeine Leitgedanken her. D.h., daß dieses Gesetz von vorneherein auf Interpretation angewiesen war. Sein Verständnis war von früher Zeit an in Bewegung; es war nicht einfach eine bekannte Größe, sondern es ereignete sich im Hören der Gebote eine Begegnung mit Gott. Die schriftliche Aufzeichnung des Willens Jahwes war ein Novum in Israel: Zwar nur eine Zusammenfassung beabsichtigt, aber der Jahwewille trat in neue Gestalt; der Prozeß der Kanonisierung begann. Das Dtn wirkte im 7. Jh. noch nicht gesetzlich, erst später wurde es so gefaßt (420f.).
  2. Die prophetische Interpretation der Gebote
    Die Propheten sehen eine neue heilsgeschichtliche Stunde anbrechen (sie waren nicht Reformatoren des Alten oder Verkündiger neuer religiöser Ideen): die Flüche sind gegen das auserwählte Volk selbst gewandt. Die Zeitgenossen werden aus illusionärem Heilsbesitz herausgestoßen und unter Gottes Zorn und Gesetz gestellt. Die selbständige und verschärfte "Predigt" des Gesetzes ist etwas ganz Neues (¬ 421).
    Argumentation zwischen den Propheten des 8. und denen des 7./6. Jhs. verschieden.
    Im 8. Jh.
    gehen sie von dem Israel geoffenbarten Gottesrecht aus, jedoch nicht für Einzelverstöße, sondern für ihre These, Israel habe dem geoffenbarten Gottesrecht gegenüber total versagt – am Gesetz Jahwes? Nein, an seinem Heilswalten! Die Propheten des 8.Jhs. predigen "Gesetz", jedenfalls decken sie Sünde gegen Jahwes Heilswalten auf (Bspe. bes. Am 3,2); der positive Appell nimmt wenig Raum ein (¬ 423), am wenigsten als Vorbedingung des göttlichen Heils. Der innere Widerspruch erklärt sich ohne weiteres aus dem Blick der Propheten auf das Kommende: die festbeschlossene Vernichtung (Jes 28,22) und das neue Heil. Im 7./6.Jh. (Jer, Hes) weithin ähnlich. Jedoch jetzt Erwägungen über das Wesen des Gesetzes (an zentraler Stelle Jer 31,33), weil viel größeres Interesse an den alten Überlieferungen da und Bemühen, sich in ihnen einzurichten. Hatten frühere Propheten vom totalen Versagen Israels gesprochen, so rühren Jer und Hes an die Erkenntnis, daß Israel seiner Natur nach gar nicht fähig sei, Jahwe zu gehorchen. Nach Hes 20 hat sich Israel nicht an der geschichtlichen Heilstat Jahwes im engeren Sinne versündigt, sondern an seinem Gesetz (¬ 424). Überall im Geschichtslauf sieht Hes Gesetz aufbrechen und Israel daran versagen. Hier ist also von einer wirklichen lex die Rede. Das bündige Ergebnis: Israel hat es nicht befolgt; Frage nach Wollen oder Können hier gegenstandslos. Das radikale Wort Jos 24,19 findet sich im AT nicht mehr. Aber den Propheten sind hier neue Erkenntnisse aufgegangen (der neue Gehorsam, den Jahwe selbst im Menschen wirken wird). Bedeutsam ist der theologische Ort, an dem letzteres ausgesprochen wird: Ganze Verlorenheit Israels erst da deutlich, wo Gott sich aufmacht, es zu retten. Hes 36 und Jer 31 zeigen jedoch auch, wie stark die Propheten vom Gesetz her dachten und Israel von da her bedroht sahen. Verwandlung des Herzens nur differentia specifica (¬ 425); bei Jer, Hes und DtrG werden die radikalsten Erkenntnisse über Gottes Gesetz ausgesprochen: Daß es das ungehorsame Israel tötet. Israel kann jedoch zum Leben erweckt werden (Hes 37).
    Zusammenfassung zum Gesetzesverständnis der Propheten: Unter einem Gesichtspunkt, der sich bei vielen Phänomenen des AT als hilfreich erwies: Neuinterpretation älterer Überlieferungen (…). Die Propheten standen angesichts der eschatologischen Situation vor der Aufgabe, das, was Jahwe hier und jetzt von Israel forderte, ganz neu aus den alten Ordnungen zu interpretieren (Jes: Überlieferung. vom hl. Krieg® Glaubensforderung; S. 426). Die Propheten greifen zur Beurteilung der großen Probleme ihrer Zeit auf alte Normen zurück, erklären diese aber für neue Bereiche für verbindlich bzw. für Bereiche, die dem Jahweglauben verlorengegangen waren. Neu war, daß kultische und moralische Ordnungen auseinanderfallen/gegeneinander ausgespielt werden konnten.

"So war es eine neue Form von Gesetz, auf die Israel in der Verkündigung der Propheten stieß. Neu war daran, daß die Propheten nicht nur Israel, sondern auch die Völker dem Willen Gottes unterstellt und sie an ihm mit ihrer Hybris scheitern sagen (Jes 10,22). Neu aber war vor allem die Radikalität der Gesetzespredigt…" (II,427)

Die Propheten ließen sich hermeneutisch auf ein Wagnis ein: Es ging ihnen gar nicht um die Ahndung der Vergehen, was ja die einfache Konsequenz aus der Aktualisierung der alten Rechtssätze wäre. Die Verlorenheit des Volkes läßt sich nicht aus einzelnen Übertretungen beweisen, sondern aus der Erwartung eines ganz neuen Handelns Gottes. Die alten Gebote erhalten ein neues Licht (etrem Hes 20,25) – charismatisch!

  1. Schärfer als durch die Propheten wurde in Israel nie Gesetz gepredigt; Dtn und DtrG hiervon beeinflußt (¬ 428). Die Detaillierung des Opferkultes in P kann auch aus der allgemeinen religiösen Unsicherheit einer Zeit erklärt werden, die an den Fundamenten des Bundes zweifelte.
    Die Mittler-Vorstellung
    Priesterdienst
    schon stellvertretend (Verzehren des Opferfleisches), auch Prophetenamt hatte interzessorische Funktion; Bild des leidenden Propheten erst im 7./6.Jh. (¬ 429) intensiv ausgestaltet. Bei Jer allerdings fehlt der mittlerische Aspekt ihres Dienstes, bei Hes schon eher ("Bresche" Hes 22,28ff.; 13,4). Doch offen ist, ob dieser Dienst strafübernehmend ist – wohl nur eine Warnung. Wer diese überhört, vermag nicht gerettet zu werden (Hes 3,19; 33,5). Weitester Vorstoß ist Hes 4,4ff: nasa awon (aus der Kultsprache). Von hier aus ist es nicht weit zum Mosebild des Dtn und zur Vorstellen vom Leiden und Sterben des Gottesknechtes, was sich im Bereich der alttestamentlichen Heilsgeschichte nicht realisiert hat. "In beiden Fällen führt die stellvertretende Übernahme der Schuld "der Vielen" den Mittler in einen ganz außergewöhnlichen Tod: Mose stirbt außerhalb des Verheißungslandes, der Gottesknecht den Tod des Ausgestoßenen und Schuldigen." (¬ 430) Die Verheißung des stellvertr. Mittlers wurde also nicht konsequent durchgehalten (Jes 7,13; 43,23f.). Dtjes’ Wort von der Mühsal, die Gott mit Israel Sünden hat, "läßt die Vorstellung von einem anderen Gottesknecht anklingen, nämlich die, daß Gott sich selbst zum Knecht für dieses Volk machen mußte." (431).
  2. Fazit der prophetischen Botschaft: Erschreckende Interpretation von Jahwes Willen und erschreckende Weissagung von neuen göttlichen Geschichtstaten. Doch Israel solle deshalb nicht durch äuerste Gehorsamsleistung sein Schicksal wenden. Wann begann Israel, in der genauen Erfüllung der Gebote sein Heil zu suchen? Evtl. erst im ChrG. Doch die Theologie des Gesamtwerkes ist kaum "nomistisch". Von Israels nachexilischen Anfechtungen ist manches bekannt; diese brachen aber nicht am Gesetz und seiner Erfüllung auf. Hiob ist mit der Frage erstaunlich leicht fertig geworden (Hi 31); Kohelet kennt sie gar nicht; Klagegebete (¬ 432) der Anawim: keine Zerknirschung über die Sünde, sondern Warten auf die göttlichen Zusagen und sogar Pochen auf tumah. Hier eher das Gegenteil einer Gesetzesreligion (Ps 19B.119)! Die lutherische Vorstellung von einem Israel, das durch Gottes Gesetz zu immer härterem Eifer getrieben wurde…, ist aus dem AT nicht zu begründen (gegen Hirsch)!

Wenn es nach dem AT Aufgabe des Gesetzes gewesen wäre, Sünde aufzudecken, müßte da nicht im Zuge einer solchen Interpretation die Sünde vielmehr als das theologisch Verständliche erscheinen; das, womit man schon gerechnet hat und das durch die göttliche Pädagogik manifest werden soll? Die Propheten sehen in Israels Sünde aber etwas Unbegreifliches (Jer 2,11; 8,7; S. 432). Das AT erzählt zwar von manchen Gerichten wg. der Sünde, aber gerichtet hat hier Gott selbst, nicht das Gesetz oder eine heilsgeschichtliche Gesetzlichkeit. Kein Gericht wirkt unabänderliche Verwerfung, stets fängt Jahwe das Volk auf. "Wo ist der Scheidebrief eurer Mutter?" Jes 50,1. Es gibt keine Lossagung Gottes von Israel, bis zur Stunde nicht, da Jesus Christus in den Raum dieses Volkes eingetreten ist als Siegel der Treue Gottes zu Israel. In Jesus Christus streckte Gott seine Hände erfolglos nach Israel aus; dieses entfiel aber auch da nicht der Treue Gottes.

  1. Bewertung des alttestamentlichen Gesetzes in der jungen Christusgemeinde

Nichts grundsätzlich anderes zu erwarten: Neuinterpretation im Lichte eines neuen Heilsgeschehens (¬ 433), z.T. charismatisch und radikal herangezogen oder zurückgelassen. Mit dieser Freiheit wird an die Propheten angeknüpft. Kein Wunder, daß das alttestamentliche Gesetz von sich aus mit der neutestamentlichen Interpretation z.T. gar nicht Schritt zu halten scheint – schon die Propheten haben das Gesetz überinterpretiert.

Suche nach Einheitsformel f.d. Gesetz: Doppelgebot Mk 12; Liebesgebot Rö 13; dahinter steht eine lange Geschichte des Nachdenkens. Daß das übertretene Gesetz tötet, haben auch die Propheten verkündet. Aber hier hat es den getötet, der um unserer (¬ 434) Sünde willen den Weg der Entäußerung gegangen war. Von diesem Ereignis aus mußte ein neues und radikaleres Verständnis des Gesetzes (auch des Todes) ausgehen: das alttestamentliche "Gesetz" ist erst an Jesus Christus, seinem einzigen Erfüller, ganz offenbar geworden. Dann hat aber auch Gottes Bund mit Israel erst in Jesus Christus seinen rechten Bundespartner gefunden, denn er hat bei diesem Israel bis in den Tod ausgeharrt. Gott behielt recht (Hiob 1,8; 2,3): einen gab es, an dem der Verkläger nichts finden würde; die Propheten hatten recht behalten: die Geschichte Israels war nicht ins Leere gestoßen. Mit Jesus Christus trat der in die Geschichte des Volkes, der "ganz" war mit Gott. Und in ihm wird der alte Bund entschränkt und die Innerweltlichkeit der Heilsgüter aufgehoben (Gen 12,3; Jes 2,2-4; 60,1ff.).

Paulus hat am folgerichtigsten die Kontinuität zwischen AT und neutestamentlichen Heilsgeschehen (¬ 435) aufgezeigt und die Linien am kühnsten – charismatisch interpretiert. Er steht aber damit nur neben anderen ("Wie könnte auch eine so kühne Interpretation zur Norm werden!"): Mt, Lk, Hb, die auch das Siegel des Geistes tragen. "Es gibt also überhaupt keine normative Deutung des Alten Testaments. Jede Zeit muß von ihrer Erkenntnis her und von ihren Notwendigkeiten her das Wort des alten Buches zu hören suchen. Wenn ihr dieser charismatische Zugang verloren ginge, so würden ihr weder Paulus noch Matthäus noch der Hebräerbrief helfen können" (436).

 

 

Rückblick und Ausblick (II,437-447)

  1. Wellhausen
  2. Zeit nach 1918; "Heilsgeschichte"
  3. Verhältnis der biblischen Aussagen zu Erkenntnissen der modernen Historie trat in eine Krise. Die geschichtstheologischen Werke Israels wurden zu Steinbrüchen (442), Gegenstände der Methode unterworfen.… Nicht neue Methode ist zu fordern, sondern nur die historisch-kritische Methode flexibler zu handhaben. Die Spannung der Geschichtsbilder ist auszuhalten und ihre Machtansprüche zu verwehren. … Nicht einfach Tatsache gegen Illusion, sondern zwei verschiedene Weisen, Geschichte zu apperzipieren! Wo immer die Rede von "Geschichtsfakten" war (bes. im Bd. I), da ist so weit wie irgend möglich an die Auffassung Israels davon zu denken. Eigentümlichkeit der isr. Geschichtsdarstellung: a) Horizont, der souverän von Jahwe durchwaltet ist, b) der je darstellende Glaube ist seinem Gegenstand meist nicht gleichzeitig, sondern schon voraus. Er stellt den Gegenstand anachronistisch ganz in den eigenen Horizont hinein. So begegnet Israel viel intensiver der Geschichte, als wenn es sie im modernen Sinne "historisch" gelesen hätte. Der Rückzug auf unsere positivistische Frage wäre das Ende einer gedeihlichen Beschäftigung mit dem AT. Begriffe "Natur", "Geschichte" – alles kam darauf an, daß sie von Jahwe durchwaltet waren; die Frage nach dem historisch Verifizierbaren hört an dem vorbei, was Israel wichtig war (445f.).
  4. Neue Aufgabe für uns: wirklich angemessene Sachkritik.
  5. Auch Aufgabe: "Wagnis des Zusammendenkens"; Frage nach dem Typischen Israels (Bindung an göttliche Geschichtssetzungen und deren Neuaktualisierung – also eine bestimmte Form typologischen Denkens) weiter vorantreiben, dann den verlorenen Begriff von der Einheit des Alten Testaments wiedergewinnen. Überläßt sich die alttestamentliche Theologie dem ruhelosen, für Israel so typischen Traditionsprozeß, dann wird sie schließlich von ihrem Stoff selbst bis an die Schwelle des NT getragen, ja über diese Schwelle. Damit zeichnet sich aber ein noch ferneres Ziel unseres Bemühens ab, nämlich das einer "Biblischen Theologie", in der der Dualismus je einer sich eigensinnig abgrenzenden Theologie des Alten und des Neuen Testaments überwunden wäre. Das Wie ist noch schwer vorstellbar. Es ist aber ermutigend, daß sie immer lauter gefordert wird (R.de Vaux, Ebeling, H.Schlier; S. 447).